Jazzhaus S BSIN04315106

Scott, Tony - Lost Tapes - Germany 1957/Asia 1962

„Keine Angst vor Jazz“ hieß die erste Sendereihe, mit der in Stuttgart der noch unter Aufsicht der amerikanischen Militärregierung stehende Radiosender 1947 die wenige Jahre zuvor verbotene Musik in sein Programm einführte. Acht Jahre später schuf ihr Autor Dieter Zimmerle, Leiter der Jazzredaktion des nun selbstständigen SDR, die Konzertreihe „Treffpunkt Jazz“. Die Angst war mittlerweile Interesse und Begeisterung für den Jazz gewichen, nicht zuletzt dank der prominenten Gäste aus dem In- und Ausland, die man nach Stuttgart einlud. 1956 kam Lee Konitz, im April 1957 machte Tony Scott auf einer Europa-Tournee Halt in Stuttgart. Später im Jahr folgten das Modern Jazz Quartet und Miles Davis. Begleitet wurden die Gäste von der Rhythmusgruppe des hauseigenen Tanzorchester, die meist die solistische Prominenz noch ins Studio bat, so auch Tony Scott. Der Klarinettist hielt für diese Gelegenheit eine Auswahl von Standards bereit. Zur Seite stand ihm mit Horst Jankowski einer der talentiertesten jungen Jazzpianisten Deutschlands, ein technisch brillanter Improvisator, der sich zudem durch spontanen Ideenreichtum auszeichnete. Man verstand sich, denn Scott führte sein Stuttgarter Begleit-Trio 14 Tage später nach Jugoslawien zu einem Konzert, bei dem erstmals eine seiner bekanntesten Kompositionen erklang: Blues For Charlie Parker.

Als Joachim-Ernst Berendt 1962 diesen Titel mit Scott aufnahm, trat der Klarinettist in Hongkong auf, Station einer mehrjährigen Odyssee durch Südostasien, wohin Scott vor der Kommerzialisierung des Jazz in den USA und auf der Suche nach Inspiration geflohen war. Berendt, damals selbst Suchender nach neuen Ufern für den Jazz, traf Scott mehrmals in Asien, bewaffnet mit tragbarem Bandgerät und Mikrofon. In Hongkong hielt er die Begegnung Scotts mit einer Gruppe weiterer Jazz-Exilanten aus Italien um den Saxophonisten Giancarlo Barigozzi fest, die lokalen Begleitmusiker des wunderbar intimen Moonlight In Vermont aus Singapur blieben ungenannt. Trotz ihrer Klangbeeinträchtigung verdienen diese unter nicht idealen Bedingungen entstandenen Mitschnitte die Veröffentlichung als rare Zeugnisse einer bisher kaum dokumentierten Phase aus der Laufbahn Scotts.

„Ich spiele Balladen gerne möglichst einfach, um ihnen Wärme zu verleihen“, charakterisierte Scott selbst seine Spielweise in langsamen Tempi. Als Vorbild benannte er stets Ben Webster, der ihn als jungen Musiker unter seine Fittiche genommen und ihn mit seinem emotional-melodiösen Balladenstil auf dem Saxophon zu einer für die Klarinette ungewöhnlich warmen und weichen Spielweise inspiriert hatte. Klangliches Zeugnis dafür ist der Scott eigene, intim-zarte, gelegentlich luftige Legatoton, den er wie niemand sonst der Klarinette über alle Register hinweg buchstäblich einzuhauchen verstand. Die beiden Versionen von Moonlight In Vermont oder das ausgedehntere You Go To My Head sind Paradebeispiele für Scotts Balladenkunst. Den Balladen gegenüber stehen die schnellen Tempi, die einen anderen Scott offenbaren. Mit eher dünnem und sprödem, fast grellem Ton artikuliert er virtuose Bebop-Linien, denen eine drängende, oft hektisch wirkende Energie innewohnt. Pate für diese Seite Scotts steht der Einfluss von Charlie Parker, an dessen Spiel ihn vor allem die komplexe Rhythmik und seine mitunter asymmetrische Phrasenbildung faszinierten. „Er spielte so viele Töne, rauf und runter und hin und her. Es klang wie 100 Hühner, die verrückt werden, wenn der Fuchs in den Stall kommt“, beschrieb Scott seine Begegnung mit der Musik Parkers. Das live in Stuttgart mitgeschnittene A Night In Tunisia und die Studioaufnahme von Lover, Come Back To Me stehen für den anderen Scott. In Blues For Charlie Parker verbindet er schließlich beide Seiten.
Tracklist:
1. Moonlight In Vermont
2. The Man I Love
3. Lover, Come Back To Me
4. You Go To My Head (Take 2)
5. Blues
6. A Night in Tunisia
7. There Will Never Be Another You
8. Blues For Charlie Parker
9. Hong Konk Jazzclob Blues
10. All The Things You Are
11. Moonlight in Vermont
Released 2015.
Price: 12,90 EUR